Tradition

Die Urasenke-Tradition des Teewegs

Überall auf der Welt trinken die Menschen Tee, aber nirgendwo wurde die Kultur dadurch so nach-haltig beeinflusst wie in Japan. Hier wurde das Zubereiten und Trinken von Tee auf eine besondere Art, Matcha genannt, zur Grundlage für eine tief gehende geistige und ästhetische Schulung, die alle Bereiche der japanischen Kultur stark geprägt hat.

Matcha ist ein grüner Tee in Pulverform, der mit heißem Wasser aufgegossen wird. Diese Art Tee gelangte im zwölften Jahrhundert durch Zen-Mönche nach Japan, die von ihren Studien in China zurückkehrten. In den Zen-Klöstern wurde er als sanftes Stimulans verwendet, um den Geist während der Meditation freizumachen. Außerdem stellte er eine wertvolle Medizin dar und wurde in symbolischen Zeremonien verwendet. Der Genuss von Matcha breitete sich gleichzeitig auch in den herrschenden Fürstenhäusern aus, die feudale Tee-Empfänge zum Ausstellen und Vorführen von chinesischen Kunstobjekten veranstalteten.

Aus diesen zwei unterschiedlichen Verwendungsarten von Matcha entwickelte sich die Vorstellung, Teezusammenkünfte abzuhalten, die bewusst als Medium für geistige und ästhetische Erfüllung dienen sollten. Dies führte zunächst zur Einrichtung von Räumen, die speziell für solche Versammlungen entworfen wurden. Wichtig für diese Entwicklung war das Aufkommen eines einzigartigen, durch Zen inspirierten ästhetischen Konzepts: der Wertschätzung einer subtilen, asketischen Schönheit, die man in Dingen entdecken kann, die einfach und unauffällig erscheinen.

Im sechzehnten Jahrhundert verwirklichte Sen Rikyu (1522-1591), ein Mann von großer Kreativität und eine Leitfigur der kulturellen und politischen Schauplätze seinem asketischen „Strohhütten“-Tee. Rikyus einzigartiges künstlerisches Denken und seine auf Zen beruhenden Ideale verwandelten die Tätigkeit des Zubereitens, Servierens und Genießens von Tee auf wirkungsvolle Weise in eine um-fassende Übung und legten so den Grundstein für Chado, den Teeweg.

Sen Rikyū 千利休 
1522 – April 21, 1591 (some dates give March 28.)
陰暦二月二十八日 28th day of the 2nd lunar month

Sen Rikyu legte seinem Chado-Ideal vier Prinzipien zugrunde: wa, kei, sei und jaku. Wa bedeutet Harmonie. Harmonie, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, zwischen Mensch und Natur, in der Auswahl der Geräte für die Teezubereitung und in der Art, wie sie verwendet werden, sowie in allen anderen Bereichen des Teewegs. Kei bedeutet Hochachtung. Allen Dingen wird eine Ehrfurcht entgegengebracht, die aus einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit allen Seins gegenüber entspringt. Sei bedeutet Reinheit, im weltlichen wie auch im geistigen Sinn. Und jaku schließlich bedeutet Stille – einen Zustand des geistigen Friedens und der Gelassenheit.

Auf dieser Grundlage lernen Menschen, die den Teeweg beschreiten, sorgsam mit allen dazu gehörenden Elementen umzugehen; mit der Einrichtung, den verwendeten Gegenständen, den praktizierten Umgangsformen, den Speisen und sogar mit dem verwendeten Wasser. Mit dieser Übung und dem Erlernen des Weges verfolgen sie das Ziel, sich selbst zu erkennen und geistig zu wachsen.

In einem ruhigen, alten Stadtteil von Kyoto, der Kulturhauptstadt Japans, befindet sich das Anwesen der Urasenke-Linie der Sen-Familie seit dreieinhalb Jahrhunderten an seinem gegenwärtigen Platz. Die ältesten Teeräume wurden ursprünglich von der dritten Generation der Familie gebaut: von Sen Sotan, Rikyus Enkel. Der Komplex aus Teeräumen und Gärten wurde wegen seiner Bedeutung in der japanischen Kulturgeschichte und Kunst von der japanischen Regierung zu einem wichtigen Kulturgut (Important Cultural Property) erklärt. Dieses Anwesen, in dem der Geist Sen Rikyus fortlebt, ist die Heimat der Urasenke und das Herz des Chado für Millionen Menschen, die dem Teeweg in der Urasenke-Tradition auf der ganzen Welt folgen, ihn erlernen und praktizieren.

Seit der Zeit von Rikyu sind mehr als vier Jahrhunderte vergangen, aber seine Nachkommen haben sein Vermächtnis über Generationen hinweg bewahrt und weitergegeben. Jeder weitere Erbe hat diesem Vermächtnis auch etwas hinzugefügt, so dass der Teeweg in seiner tiefen Bedeutung lebendig geblieben ist. In unserer modernen Zeit bietet uns Chado einen heilsamen Weg zur kulturellen Bereich-erung und Selbstverwirklichung, sowie eine zeitlose Weise des Genießens wundervoller Momente durch das Teilen einer Schale Tee mit anderen.

Großmeister Zabosai Soshitu Sen XVI (links), vorm. Großmeister Hounsai Genshitsu Sen (rechts)

 

“Yuin“-Teehaus erbaut von der dritten Generation der Familie, Sen Sotan